Ich war auf der Suche nach einem alten 50mm-Objektiv für meine Leicas, und dieses Angebot bei Ebay schien verlockend: Eine Leica IIIf mit Schraubgewinde und einem versenkbaren 2.0 Summitar, komplett mit dem seltenen Schraubfilter mit konischem Gewinde, der die empfindliche Beschichtung der Frontlinse schützt. Da ich einzelne Summitare ohne Gehäuse dazu schon für höhere Preise gesehen hatte, schlug ich zu und besaß plötzlich eine Leica mit Schraubgewinde – die Großmutter meiner M9 sozusagen. Und ich verliebte mich sofort in die alte Dame.
Kleiner und schlanker als die M3 – für mich der Ur-Meter aller Leicas seit ich sie vor vielen Jahren von meinem Onkel Bertl geschenkt bekam – war sie mit ihrem kaum verkratzten Chrom und ihrer perfekt erhaltenen Belederung ein technischer Handschmeichler der besonderen Art. Und sie kam mit einem noch eingelegten Film, das Bildzählwerk zeigte gerade mal zwei Bilder.
Ich machte mich sofort daran, den restlichen Film zu belichten und freundete ich mich dabei rasch mit der neuen, alten Leica an, mit ihren auf zwei Rädchen verteilten Zeiten (die kurzen werden wie üblich am Drehknopf oben an der Kamera eingestellt, die langen an einem weiteren Rädchen an ihrer Vorderseite), und mit ihrer ebenfalls zweigeteilten Bildkomposition: Erst stellt man durch ein Okular blickend die Entfernung ein, dann legt man durch ein direkt daneben liegenden zweites den Bildausschnitt fest. Verglichen mit meinen Messsucherleicas war es ein Gefühl, als würde man von einem modernen Auto mit synchronisiertem Getriebe auf einen Oldtimer umsteigen, den man mit Zwischengas schalten muss. Ein Technologieerlebnis „on a completely new level“ hätte Steve Jobs auf seinen Keynotes gesagt – aber halt auf einer Ebene, die eine Stufe tiefer liegt. Eine technische Zeitreise, die mich immer wieder bei meinen historischen Kameras begeistert.
Als ich dann den auf gut Glück belichteten Film abholte , sah ich schon auf dem Leuchttisch des Fotolabors die vielen schwarzen Punkte auf den Negativen – ein untrügliches Anzeichen für Lichtlecks in den Verschlussvorhängen der Kamera. Eine kurze Inspektion der filmlosen Leica bestätigte meinen Verdacht: Die Gummierung des Seidentuchs eines der Vorhänge war rissig wie der Schlamm am Ufer eines ausgetrockneten Stausees.
Damit war mein vermeintliches Schnäppchen kein Schnäppchen mehr, aber weil für mich schon bei dem einen Film klar war, dass ich in kleine, alte Leica behalten würde, überlegte ich nicht lange und brachte sie zum Reparieren. Etwa zweihundertzwanzig Euro würde die Reparatur kosten, erklärte mir Herr Wiener in der Landwehrstraße, der schon viele meiner Kameras repariert hat. Eine komplette Durchsicht und Justage von Kamera und Objektiv wäre auch mit dabei, da kann man nicht nein sagen.
Als ich eine Woche später den Film scannte – eigentlich nur als Beleg für mein Archiv -, bedauerte ich diesen Entschluss fast schon wieder. Klar, die Vorfreude auf eine rundüberholte III f war nach wie vor groß, aber die Möglichkeit, Bilder mit diesen speziellen Fehlern machen zu können, hatte etwas ebenso Verlockendes.
Die Aufnahmen, die das alte Summitar mit seinem unvergleichlichen Schmelz auf den grobkörnig gewordenen Film gezaubert hatte, waren wahre Gemälde aus Licht, die irgendweie an die Anfangszeit der Fotografie erinnerten. Gut, das sind sie auch mit der M9, aber der kaputte Verschluss hatte zusätzlich seine ganz eigenen Lichtkompositionen darübergemalt. Je nachdem, wie lange der rissige Vorhang dem Licht ausgesetzt gewesen war, hatte er entweder ein paar weiße Tupfer auf die Bilder gesetzt oder sie mit einem abstrakten, mehr oder weniger dichten Schauer eigenartig geformter Lichtgebilde übersät. Dieser unkontrollierte Biss des Lichts in die schlecht geschützte Emulsion des Films hat einen Reiz, der mich jetzt bei Ebay nach Kameras suchen lässt, deren Verschlusstücher defekt sein. Mit etwas Glück muss so etwas doch zu finden sein …
Michael Khan
16. Oktober 2022 — 19:56
Eigentlich sind alle alten Kameras mit Verschlussvorhängen aus Stoff Kandidaten für das beschriebene Problem, aber manche mehr als andere.
Da ist beispielsweise die Contax S zu nennen, bekannt als erste Serienkamera mit Prismensucher, oder auch die Ihagee Exakta Varex VX, Nachfolger der Vorkriegs-Kine Exakta und bekannt aus Alfred Hitchcocks “Fenster zum Hof“. Wenn man so eine kauft, ist der ausgetrocknete und damit rissige zweite Verschlussvorhang fast schon garantiert … nicht nur “mit etwas Glück“.
Ich habe beide und musste bei beiden den Vorhang wechseln lassen, was aber OK war. Die Contax S mag ich wegen ihres Aussehens und weil sie mit einem ganz besonders feinen Objektiv zu mir kam, dem Biotar 58/2. Die Varex wegen ihres Steampunk-Designs, wegen Hitchcock, und weil man ihr noch die Abstammung von der Kine Exakta anmerkt. Die ist einfach was besonderes.
Weil beide zusammen mit der Verschlussreparatur auch gereinigt und geschmiert wurden,sind sie jetzt nicht nur nickelfrei, sondern amorph und geschmeidig.
Michael Khan
16. Oktober 2022 — 20:01
In meinem Kommentar hat die automatische Rechtschreibprüfung sinnentstellend zugelangt: statt “nickelfrei“ muss es “lichtleckfrei“ heißen und statt “amorph“ sollte “amorph“ stehen.
Nantwein
16. Oktober 2022 — 20:39
Ja, das Problem mit dem Verschlussvorhang hatte ich vor vielen Jahren bei einer Exakta Varex auch – ich habe damals die Löcher im Verschluss mit einer Mischung aus Tusche und Gummi arabicum zugekleistert – eine etwas unorthodoxe Reparaturmethode, aber sie hat eine Weile funktioniert …
Ich teile deine Gefühle für diese Kamera und würde als einen weiteren „unique selling point“ der Varex noch das geniale Laufwerk für die langen Zeiten bis 8 Sekunden hinzufügen …
Michael Khan
17. Oktober 2022 — 18:19
Heute kam der erste Testfilm nach der Reparatur vom labur zurück. Ich bin bin zufrieden. Die Bilder erscheinen nach und nach in meinem Flickr-Fotostream.
Ich muss zugeben, mit den langen Zeiten auf der Varex VX habe ich mich noch nicht auseinandergesetzt. Man braucht ja schon einen Doktor in Feinmechanik, um diese Kamera bedienen zu können. Ich studiere erst mal noch das Handbuch, was ich ansonsten bei analogen Kameras schon aus Prinzip nicht mache.