Früher habe ich mich immer darüber lustig gemacht, dass manche Leute einen Film jahrelang in der Kamera lassen und ihn erst entwickeln lässt, wenn auch wirklich alle 36 Aufnahmen verschossen sind. Ich dachte da immer an jemanden, der am Ende seines Sommerurlaubs bei Aufnahme 29 die Kamera weglegt und sich sagt, dass er den Rest des Films bestimmt an Weihnachten verknipsen wird.

Damals, als Profifotograf, der oft am Abend zehn untertags belichtete Filme zum Labor trug, konnte ich so eine Filmsparsamkeit nicht ganz verstehen und außerdem konnte ich es damals kaum erwarten, die Ergebnisse meiner Fotografie zu sehen. Was für ein Glück, dachte ich, dass diese Profilabore einem schon nach einer Stunde den entwickelten Ekta- oder Agfachrome Diafilm in die Hand drückten – automatisch gerahmt, mit meinem Namen bedruckt und in einer gut stapelbaren Plastikbox.

Heute bin ich vom Verlangen nach schnellen Bildergebnissen zwar weitgehend befreit, und bei den von mir erfundenen Latergrammen lasse ich Filme bewusst über Monate oder Jahre im Regal liegen, bevor ich sie in die Entwicklungsdose spule. Aber das mache ich ganz bewusst und mit voller Absicht.

Es komm bei den vielen analogen Kameras, die ich inzwischen besitze, aber auch hin und wieder vor, dass ich einen Film in einem der Apparate vergesse, zu denen ich nicht so häufig greife. In der Folge ist es mir schon häufiger passiert, dass ich eine Kamera aufgeklappt habe, um einen neuen Film hineinzulegen und entsetzt feststellen musste, dass sich bereits einer in ihr befand. Aus diesem Grund habe ich mir übrigens vorgenommen, bei meinen eigenen Kameras in Zukunft das zu tun, was ich bei jeder alten Kamera, die mir in die Hände fällt, ganz sebstverständlich ist: Nachschauen, ob noch ein Film drin ist.

Weiß ich bei meinen Latergrammen meistens genau, wann der Film belichtet wurde (das gehört schließlich zum Konzept des Latergrams), bin ich mir bei den zufällig in meinen Kameras verbliebenen Filmen nicht ganz so sicher, wann ich das erste Bild auf ihnen gemacht habe. Und so sind diese Filme für mich so etwas wie Reusen, die ich in den Strom der Zeit gehängt und für eine Weile dort belassen habe. Wenn ich die Reuse dann irgendwann einmal aus dem Strom ziehe, haben sich darin ein paar Bilder gefangen, Augenblicke, die ich irgendwann einmal interessant genug gefunden hatte, um sie festzuhalten, aus welchen Gründen auch immer.

Diese Gründe nachzuvollziehen und die Bilder aus der Zeitreuse möglichst genau einzugrenzen ist manchmal nicht einfach, hat aber für mich einen ganz besonderen Reiz.

Bei dem Film, den ich vor einiger Zeit in einer beiden Agfa Isoletten (der mit dem goldfarbenen Balgen und dem Solinar-Objektiv) entdeckt und vor kurzem entwickelt habe, war es nicht schwer, den Anfang des Filmes zeitlich zu verorten, denn er zeigt einen Straßenmarkt, und zwar irgendwo in Italien, dem Hausschild an einer der Wände zu schließen. Und weil ich auf meinen Reisen immer ziemlich genaue Tagebücher führe, war schnell alles klar: Das erste Bild entstand am 5.September 2019 in Bassano del Grappa auf einem Markt, den ich in meinen Tagebuch als „einen von diesen typisch italienischen Kleidermärkten“ beschreibe, „auf denen jede Menge geschmackloser Ramsch verkauft wird“ – bisschen hart vielleicht, aber wir waren enttäuscht weil wir eigentlich einen Markt mit Lebensmitteln erwartet hatten.

Es muss der letzte Schwarzweißfilm dieser Reise gewesen sein, und weil erst fünf Bilder darauf waren, habe ich ihn wohl in der Kamera gelassen, diese weggeräumt und dann für ein paar Monate vergessen. Die nächsten drei Bilder sind deswegen immer noch aus Bassano, eines noch vom Markt und nicht ganz scharf …

… eines über die Brenta auf die Stadt geschossen …

… und eines von einem mit Schlingpflanzen überwucherten Bauzaun, der sich ebenfalls irgendwo an der Brenta befunden haben muss, wenn ich mich richtig erinnere.

Nun folgt ein kurzer Schlaf des Films in der Kamera. Als ich sie das nächste Mal zum Fotografieren aufgeklappt habe, war das im Kloster Benediktbeuern, was ich an der Fassade der reich mit Lüftlmalerei verzierten Fassade des renovierten Maierhofs erkennen kann.

Auch die nächsten beiden Fotos sind aus dem Innenhof dieses imposanten Gebäudes – ein seltsam markierter „Unterflurhydrant“ …

… und zwei liegen gelassene Kindertretroller …

An beides konnte ich mich nicht mehr erinnern, und genau das ist der Charme dieses Reusenfischens im Strom der Zeit. Aber ich erinnere mich noch gut, dass ich ein wenig zu früh zu einer Buchpräsentation im Kulturzentrum des Maierhofs gekommen war und die verbleibende Zeit dazu genutzt hatte, einen kleinen Fotorundgang über das Klostergelände zu machen. Und weil ich noch weiß, was für eine Veranstaltung das war (die Vorstellung des Buchs „Münchner Originale“ aus dem Allitera-Verlag, das nicht nur wegen der vom Komiker Karl Valentin gesammelten Fotografien eben jener Originale sehr empfehlenswert ist), kann ich auch diese Fotos sehr genau datieren. Sie sind am 31.Oktober 2019 entstanden.

Schließlich kam mir in Benediktbeuern noch eine Erinnerungstafel an den „Korbinansapfel“ vor die Linse…

… eine Apfelsorte, die der „Apfelpfarrer“ Korbinian Maier 1944 im Konzentrationslager Dachau unter dem Namen „KZ 3“ gezüchtet und aus dem Lager geschmuggelt hat.

Ein letztes Foto noch auf dem Friedhof des Klosters …

… dann verschwand die Isolette wieder in meiner Schublade für 6×6-Klappkameras, und die latenten Bilder auf dem Fomapan 200 schliefen weiter den bangen Schlaf der Unentwickelten, bis ich die Kamera im Jahr darauf wieder zur Hand nahm. Es war inzwischen Frühling 2020, und zwei Bilder waren noch auf dem Film, was man im roten Fenster an der Rückseite der Isolette zum Glück schnell erkennen kann.

Das vorletzte Bild auf dem Film machte ich von einem Telekom-Kasten vor dem Studentenheim ganz in der Nähe meiner Wohnung …

… und das letzte zeigt einen der beklebten Laternenpfähle, an denen ich einfach nicht vorbeigehen kann, ohne ein Foto von ihnen zu machen. Leider sind sie nicht ganz scharf, das „Protein+Beer“ und das „alcoholic body building“, auf die ich es eigentlich abgesehen hatte, aber wahrscheinlich habe ich die am Entfernungsmesser abgelesene Meterzahl nicht richtig aufs Objektiv übertragen – aber was soll’s – das ist eben die Isolette.