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Ein Fotografie-Blog

Analoge Fotografie oder die Kunst, auf ein Bild zu warten


Es gibt vieles, was einen an der neu entdeckten analogen Fotografie faszinieren kann. Die mechanischen Kameras, die alten Objektive mit ihrem ganz eigenen Charakter, die unendlich vielfältigen Film-Entwickler-Kombinationen, die Beschränkung aufs Einfache, Wesentliche.

Mir ist neulich noch ein ganz wesentlicher Punkt eingefallen, den es in dieser Form bei der digitalen Fotografie nicht gibt: Das Warten auf die Bilder. Bei einer Digitalkamera kann ich das Foto Sekunden nach der Aufnahme auf dem Display anschauen, löschen oder hinauf in eine Cloud laden, ein analoges Bild bleibt nach der Belichtung erst einmal unentwickelt in der Kamera. Ein Muster aus winzigen  Silberhalogenidkristallen in der Schicht des Films, manche von ihnen noch unberührt und intakt, manche von Photonen angepickt und dazu ausersehen, bei der Entwicklung in elementares Silber umgewandelt zu werden.

 

Dieses latente Bild schläft, stofflich vorhanden aber unsichtbar in meiner Kamera und später, wenn der Film zurückgespult ist, schläft es in der Kleinbildpatrone weiter. Manchmal nur Stunden, manchmal aber auch Monate oder sogar Jahre. Das ist für analoge Bilder nichts Ungewöhnliches. Im Nachlass der berühmten, erst posthum entdeckten Fotografin Vivian Maier wurden an die 700 unentwickelten Farbfilme gefunden, und ich selber kaufe hin und wieder eine alte Kamera, in der einer der Vorbesitzer vergessen hat, den letzten Film herauszunehmen. Dieser Schlaf der Bilder im Dornröschenschloss der Gelatineschicht gehört für mich zum Faszinierendsten, was die analoge Fotografie zu bieten hat. Nicht nur, weil sie latenten sich in diesem Zwischenreich kontinuierlich verändern (man braucht sich nur die Farben eines Films anzusehen, der ein Jahrzehnt lang in einer Kamera war), sondern weil zu jedem Foto, das wir gemacht haben, ein Gegenstück in unserem Kopf existiert. Und auch das hat, bis das reale Foto entwickelt ist und angeschaut werden kann, durchaus ein Eigenleben.

Im Moment der Aufnahme hatte ich eine bestimmte Idee von dem Bild, und bis ich es als Negativ gegen das Licht halte und so zum ersten Mal erblicke, ist es für mich nichts weiter als eine mehr oder weniger klare Erinnerung. Dem Unterschied zwischen diesen Erinnerungen und den realen Fotos wollte ich einmal auf den Grund gehen.

Bilder in meiner Erinnerung

Letzten Samstag bin ich mit dem Fahrrad zum Einkaufen auf den Wochenmarkt gefahren. Es herrschte dieses duftige, helle Frühlingslicht, das selbst in einer so unfotogen gewordenen, gnadenlos aufpolierten und nachverdichteten Stadt wie München optische Wunder wirkt. Die Luft ist voller gelbem Blütenstaub, die Schatten sind weich und aufgehellt, der vormittägliche Himmel ist getupft mit kleinen Wolken und die Menschen befinden sich im samstäglich aufgeräumten Aggregatszustand, einem Mittelding zwischen hektischem Werktags- und bräsigem Sonntagsmodus.
Ich hatte meine Retina III C, mit einem Agfa Vista 200 Film geladen und mit dem Xenon 2/50mm Normalobjektiv versehen, in  ihrer ledernen Bereitschaftstasche über meine Schulter gehängt. Ich liebe diese Kamera-Taschenkombination, sie vermittelt mir ein wunderbar nostalgisches Gefühl als wäre ich soeben einer Ausgabe der „Retina-Revue“ aus den 50er-Jahren entsprungen, eine lebende Illustration zu Artikeln wie „Retina-Freunde zeigen ihr Können“. Die biedere Familienkamera von damals für moderne Straßenfotografie zu verwenden, hat für einen ganz eigenen Reiz. Niemand nimmt dich ernst, wenn du mit einem solchen Apparat hantierst, wenn dich überhaupt jemand beachtet, dann schenkt er dir höchstens ein mitleidiges Lächeln.
An diesem Samstag fuhr ich los in Richtung Wochenmarkt und blieb immer wieder stehen, wenn ich glaubte, die Bereitschaftstasche öffnen und ein Foto zu machen zu müssen.
Auf dem Rückweg setzte ich mich dann in einem kleinen Park auf eine Bank und notierte mir, an welche unentwickelt in der Filmpatrone schlafenden Bilder ich mich erinnerte:

Acht Bilder, notiert und entwickelt

Bild 1

Balkone wie an eine Mauer geklebte Würfel in der Sonne. Tauben fliegen hin und her, aber ich kriege sie nicht in den Sucher. Ich mache das Foto trotzdem.

 
Anmerkung: Nachdem ich das Bild entwickelt hatte, fiel mir auf, dass ich eine Taube doch mit aufs Foto bekommen habe und war hoch erfreut – auch das ist einer der großen Vorzüge analoger Fotografie: manches in einem Foto entdeckt man erst, wenn es entwickelt und eingescannt oder vergrößert ist, während man bei der digitalen Fotografie eher versucht ist, ein Bild sofort auf dem Monitor der Kamera zu kontrollieren und dabei möglicherweise das nächste zu übersehen.
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 Bild 2 und Bild 3

Ein älterer Mann in einer Isetta. Ich sehe das altertümliche Gefährt aus einer Tankstelle auf die Leopoldstraße fahren, halte an und nehme noch auf dem Fahrrad sitzend die Retina ans Auge. Als ich auf den Auslöser drücke, merke ich, dass ich nach dem letzten Foto die Kamera nicht aufgezogen hatte. Ich steige in die Pedale und fahre der Isetta auf dem Radweg hinterher. An der nächsten roten Ampel habe ich ihn eingeholt. Er steht vor einem Linienbus. Die Ampel wird grün, während ich die Kamera ans Auge halte, scharfstelle. Keine Zeit, die Belichtung zu messen. Der Mann kriegt zum Glück den Gang nicht gleich rein, der Busfahrer hupt, ich mache rasch hintereinander zwei Bilder. Eine Frau fragt mich im Vorbeigehen: „Haben Sie ihn erwischt?“

Anmerkung: „Erwischt“ habe ich ihn, aber das erste Foto, das mit dem Bus hinter der Isetta, von dem ich geglaubt hatte, es wäre das bessere, ist mir in der Hektik nicht recht gelungen, weil die Isetta vorne abgeschnitten ist. Aber das zweite, eigentlich nur zur Sicherheit gemachte, war ein echter Hit: Dass ausgerechnet zwei Porsche hinter der Isetta vorbeifahren und aus einem von ihnen auch noch eine Frau hinüber zu dem knallroten Mobil schaut und dann auch noch die Haltelinie der Ampel wie die Ziellinie eines Rennens wirkt, haben dem Foto viel Aufmerksamkeit bei flickr beschert.

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Bild 3

 

Eine Telefonzelle auf dem Wochenmarkt. Eine der ganz wenigen, die es in Schwabing noch gibt. Ein weißer Afghane steht dahinter. Ich fotografiere ihn durch die Scheiben der Telefonzelle hindurch.


Bild 4

 

Ebenfalls auf dem Markt eine Frau mit einem sonnenbebrilltem Kind am Brunnen, im Vordergrund ein Hollandrad. 

 


Bild 5

 

Auf den Rückweg entdecke ich den Hund wieder. Er sitzt vor einem Fahrradgeschäft hinter dem abgestellten Rad seiner Besitzerin.

 

 


Bild 6

 Ein offenes Fenster in der Clemensstraße, in dem lauter graue Hemden zum Trocknen in der Sonne hängen. Ich fahre extra ein paar Meter zurück, um das Foto zu machen und sehe erst dann die spitzen Ohren einer kleinen Katze, die unter den Hemden vor dem Fenster sitzt. 

 

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Bild 7

Das Plakat eines Allgäuer Sargmachers im Schaukasten neben einem Lokal namens Tante Emma. 

 

 

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Ach ja, und natürlich sind in meinem Kopf auch noch die Bilder, die ich an diesem Vormittag zwar gesehen, aber nicht gemacht habe. Bilder, die für immer latent bleiben werden, bis ich sie wieder vergesse:

 

Die gedeckten Tische eines italienischen Straßenlokals in der Leopoldstraße, die im Schatten der Pappeln auf erste Gäste warten.

 

Eine Joggerin, die mir gegenüber an der Ampel steht und die Füße nicht stillhalten kann.

 

Eine elegante alte Frau, die im extravaganten weißen Kleid, einen breiten, weißen Modehut auf dem Kopf, in der Destouchesstraße vom hellen Sonnenschein in den dunklen Schatten stolziert.

 

Die Enten, die am See, der früher einmal ein Güterbahnhof war, mit ihren gelbflaumigen Küken auf dem Kopfsteinpflaster spazierengehen.

 

Eine Mutter und eine Tochter in Blümchenkleidern, die jetzt, während ich diese Notizen schreibe, ihre Fahrräder im Bayernpark an mir vorbeischieben. Der Kies des Weges knirscht leise und gleichmäßig, und auf der Wiese dahinter gibt ein alter Mann drei jungen Männern Instruktionen in irgendeiner asiatischen Gymnastik.

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