Es gibt vieles, was einen an der neu entdeckten analogen Fotografie faszinieren kann. Die mechanischen Kameras, die alten Objektive mit ihrem ganz eigenen Charakter, die unendlich vielfältigen Film-Entwickler-Kombinationen, die Beschränkung aufs Einfache, Wesentliche.
Mir ist neulich noch ein ganz wesentlicher Punkt eingefallen, den es in dieser Form bei der digitalen Fotografie nicht gibt: Das Warten auf die Bilder. Bei einer Digitalkamera kann ich das Foto Sekunden nach der Aufnahme auf dem Display anschauen, löschen oder hinauf in eine Cloud laden, ein analoges Bild bleibt nach der Belichtung erst einmal unentwickelt in der Kamera. Ein Muster aus winzigen Silberhalogenidkristallen in der Schicht des Films, manche von ihnen noch unberührt und intakt, manche von Photonen angepickt und dazu ausersehen, bei der Entwicklung in elementares Silber umgewandelt zu werden.
Dieses latente Bild schläft, stofflich vorhanden aber unsichtbar in meiner Kamera und später, wenn der Film zurückgespult ist, schläft es in der Kleinbildpatrone weiter. Manchmal nur Stunden, manchmal aber auch Monate oder sogar Jahre. Das ist für analoge Bilder nichts Ungewöhnliches. Im Nachlass der berühmten, erst posthum entdeckten Fotografin Vivian Maier wurden an die 700 unentwickelten Farbfilme gefunden, und ich selber kaufe hin und wieder eine alte Kamera, in der einer der Vorbesitzer vergessen hat, den letzten Film herauszunehmen. Dieser Schlaf der Bilder im Dornröschenschloss der Gelatineschicht gehört für mich zum Faszinierendsten, was die analoge Fotografie zu bieten hat. Nicht nur, weil sie latenten sich in diesem Zwischenreich kontinuierlich verändern (man braucht sich nur die Farben eines Films anzusehen, der ein Jahrzehnt lang in einer Kamera war), sondern weil zu jedem Foto, das wir gemacht haben, ein Gegenstück in unserem Kopf existiert. Und auch das hat, bis das reale Foto entwickelt ist und angeschaut werden kann, durchaus ein Eigenleben.
Im Moment der Aufnahme hatte ich eine bestimmte Idee von dem Bild, und bis ich es als Negativ gegen das Licht halte und so zum ersten Mal erblicke, ist es für mich nichts weiter als eine mehr oder weniger klare Erinnerung. Dem Unterschied zwischen diesen Erinnerungen und den realen Fotos wollte ich einmal auf den Grund gehen.
Bilder in meiner Erinnerung
Acht Bilder, notiert und entwickelt
Bild 1
Balkone wie an eine Mauer geklebte Würfel in der Sonne. Tauben fliegen hin und her, aber ich kriege sie nicht in den Sucher. Ich mache das Foto trotzdem.
Ein älterer Mann in einer Isetta. Ich sehe das altertümliche Gefährt aus einer Tankstelle auf die Leopoldstraße fahren, halte an und nehme noch auf dem Fahrrad sitzend die Retina ans Auge. Als ich auf den Auslöser drücke, merke ich, dass ich nach dem letzten Foto die Kamera nicht aufgezogen hatte. Ich steige in die Pedale und fahre der Isetta auf dem Radweg hinterher. An der nächsten roten Ampel habe ich ihn eingeholt. Er steht vor einem Linienbus. Die Ampel wird grün, während ich die Kamera ans Auge halte, scharfstelle. Keine Zeit, die Belichtung zu messen. Der Mann kriegt zum Glück den Gang nicht gleich rein, der Busfahrer hupt, ich mache rasch hintereinander zwei Bilder. Eine Frau fragt mich im Vorbeigehen: „Haben Sie ihn erwischt?“
Anmerkung: „Erwischt“ habe ich ihn, aber das erste Foto, das mit dem Bus hinter der Isetta, von dem ich geglaubt hatte, es wäre das bessere, ist mir in der Hektik nicht recht gelungen, weil die Isetta vorne abgeschnitten ist. Aber das zweite, eigentlich nur zur Sicherheit gemachte, war ein echter Hit: Dass ausgerechnet zwei Porsche hinter der Isetta vorbeifahren und aus einem von ihnen auch noch eine Frau hinüber zu dem knallroten Mobil schaut und dann auch noch die Haltelinie der Ampel wie die Ziellinie eines Rennens wirkt, haben dem Foto viel Aufmerksamkeit bei flickr beschert.
——————————————————————————————-
Bild 3
Eine Telefonzelle auf dem Wochenmarkt. Eine der ganz wenigen, die es in Schwabing noch gibt. Ein weißer Afghane steht dahinter. Ich fotografiere ihn durch die Scheiben der Telefonzelle hindurch.
Bild 4
Ebenfalls auf dem Markt eine Frau mit einem sonnenbebrilltem Kind am Brunnen, im Vordergrund ein Hollandrad.
Bild 5
Auf den Rückweg entdecke ich den Hund wieder. Er sitzt vor einem Fahrradgeschäft hinter dem abgestellten Rad seiner Besitzerin.
Bild 6
Ein offenes Fenster in der Clemensstraße, in dem lauter graue Hemden zum Trocknen in der Sonne hängen. Ich fahre extra ein paar Meter zurück, um das Foto zu machen und sehe erst dann die spitzen Ohren einer kleinen Katze, die unter den Hemden vor dem Fenster sitzt.
——————————————————————————————-
Bild 7
Das Plakat eines Allgäuer Sargmachers im Schaukasten neben einem Lokal namens Tante Emma.
——————————————————————————————-
Ach ja, und natürlich sind in meinem Kopf auch noch die Bilder, die ich an diesem Vormittag zwar gesehen, aber nicht gemacht habe. Bilder, die für immer latent bleiben werden, bis ich sie wieder vergesse:
Die gedeckten Tische eines italienischen Straßenlokals in der Leopoldstraße, die im Schatten der Pappeln auf erste Gäste warten.
Eine Joggerin, die mir gegenüber an der Ampel steht und die Füße nicht stillhalten kann.
Eine elegante alte Frau, die im extravaganten weißen Kleid, einen breiten, weißen Modehut auf dem Kopf, in der Destouchesstraße vom hellen Sonnenschein in den dunklen Schatten stolziert.
Die Enten, die am See, der früher einmal ein Güterbahnhof war, mit ihren gelbflaumigen Küken auf dem Kopfsteinpflaster spazierengehen.
Eine Mutter und eine Tochter in Blümchenkleidern, die jetzt, während ich diese Notizen schreibe, ihre Fahrräder im Bayernpark an mir vorbeischieben. Der Kies des Weges knirscht leise und gleichmäßig, und auf der Wiese dahinter gibt ein alter Mann drei jungen Männern Instruktionen in irgendeiner asiatischen Gymnastik.
Platzek
17. Juli 2019 — 16:04
Wunderschön vielen Dank
Marc-Alexander Heckert
2. Oktober 2023 — 12:28
Ein sehr inspirierender Artikel. In meiner Retina IIIc schlummert auch noch ein halber Portra 160. Es wird Zeit, dass ich ihn seiner Bestimmung zuführe.
Nantwein
2. Oktober 2023 — 20:13
Hallo Marc-Alexander, vielen Dank für dein Lob 🙂 Und viel Freude mit den Bildern vom Portra, der bestimmt gern aus dem Dornröschenschlaf wachgeküsst wird …