Das ist das schöne an meinen Latergrammen: Manchmal vergesse ich komplett, was auf den Filmen, die ich in meinen Kameraschrank zur späteren Entwicklung stelle, eigentlich drauf ist. Es gibt nämlich zwei Arten von Latergramen: Die, bei denen ich mir aufschreibe, was ich fotografiert habe und die Zettel zusammen mit den Filmen ablege, und die, bei denen ich keine Zettel schreibe und nur die Filme für eine unbestimmte Zeit aufbewahre.
Wenn ich sie dann, nach Monaten oder Jahren, aus einer Laune heraus entwickle, bin ich oft überrascht, was ich alles erlebt und wieder vergessen habe. Meistens kommt die Erinnerung schon wieder, wenn ich die gewässerten Negative über der Badewanne aufhänge, manchmal aber zündet der Funke in meinem Gedächtnis erst dann, wenn ich die fertig eingescannten und in Positive umgewandelten Bilder auf meinem Computer sehe. Und in einigen wenigen Fällen muss ich mich richtig anstrengen und mir überlegen, wo um alles in der Welt ich diese Fotos gemacht habe. Ich komme mir dann immer vor wie ein Eichhörnchen, das vergisst, an welchen Stellen es seine Nussvorräte für den Winter angelegt hat und so durch das weitgestreute Deponieren von Sämlingen für die Verjüngung des Waldes sorgt.
Mit dem Fomapan 100-Film, den ich neulich nach über einem Jahr im Schrank einem Impuls folgend entwickelt habe, ging es mir ähnlich. Keine Ahnung, was auch nur annähernd drauf sein konnte. Lediglich die Kamera – meine Super Ikonta 530/16 aus dem Jahr 1936 und die Zeit der Aufnahme – September 2018 – waren auf dem Etikett des Films vermerkt. Als ich ihn nach dem Wässern aufhängte, sah ich meine Zweizylinder-Adler an Orten stehen, von denen ich mich nur an ein paar erinnerte – ein Kürbisfeld, Parabolantennen hinter einem Zaun, ein Kriegerdenkmal, keine Ahnung in welchem Ort. Später, nach dem Einscannen auf dem Computer, sehe ich mehr. Ein eine kleine, steinerne Brücke, eine Straße mit Äpfeln am Boden und eine geschlossene Bäckerei mit Café, die mir auf den ersten Blick nichts sagt, deren Name aber im Internet zu einer Adresse führt. Und dann auf einmal beginnt ein Bäumchen aus der Eichhörnchen-Nuss in meinem Gedächtnis zu keimen, und nach und nach entfalten die Erinnerungen an eine kurze Ausfahrt in den Münchner Norden ihre zarten Blätter: Das Kriegerdenkmal und die Bäckerei sind in Unterföhring und irgendwie aus der Zeit gefallen in dieser stinkreich gewordenen Gemeinde, die sich eher mit dem Anlegen von immer mehr seelenlosen Gewerbegebieten an ihrer Peripherie hervortut, die Parabolantennen müssen zu irgendeinem Forschungsinstitut der TU in Garching gehören und auf die kleine Brücke, die Straße mit den Äpfeln und das Kürbisfeld habe ich erst nach mehrfachem Abbiegen von der Staatsstraße und hartnäckigem Benutzen ungeteerter Feldwege gestoßen.
Und irgendwie ist es schon ein schönes Gefühl in diesem April 2020, mitten in der coronabedingten Ausgangsbeschränkung, das mir die analoge Fotografie einen so wunderbaren Umgang mit der Zeit ermöglicht: mit einer Kamera von 1936 ein Motorrad von 1953 vor einem Kriegerdenkmal aus dem 19. Jahrhundert zu fotografieren und den Film von 2018 erst 2020 zu entwickeln. Und dann sitzt man vor dem Computer, und langsam steigen mit den Bildern Erinnerungen in einem auf, ohne Zeitstempel in den EXIF-Dateien und automatisch getaggten GPS-Koordinaten. Das hat schon was. Und macht Freude.
Ein paar Sätze noch zu den Bildern selber. Die Schlieren, die man auf manchen von ihnen im Himmel und anderswo sieht, kommen vom Cinestill Monobath Entwickler, mit dem ich in letzter Zeit eigentlich gute Ergebnisse erzielt habe, nachdem ich ganz ähnliche Schlieren auf den ersten damit entwickelten Rollfilmen entdeckt hatte. Damals führte ich es auf eine nicht in der Dose fixierte Filmspule zurück, die bei der ständigen Bewegung, mit der die Filme in diesem Prozess entwickelt werden müssen, nicht immer vom Entwickler benetzt wurde. Alle weiteren Filme, die ich danach mit dem Monobath DF 96 entwickelte, waren gut, aber jetzt, nach dem Kauf einer neuen Flasche, zeigte der erste Film wieder diese Schlieren, obwohl dieses Mal die Spule ordnungsgemäß fixiert war. Inzwischen denke ich, dass sie auf eine Kombination aus frischen Entwickler und meiner Bewegungsmethode (ich drehe die Spule mit dem der Entwicklungsdose beigegebenen Dorn im Kreis, wobei ich alle fünf Sekunden die Richtung wechsle) zurückzuführen sind. Also werde ich den nächsten Film durch beständiges Kippen der Dose entwickeln, mal sehen, was das bewirkt. Und hey, irgendwie sind solche Schlieren ja auch nicht so schlimm – zeigen sie doch, dass diese Bilder in einem chemisch-mechanischen Prozess entwickelt wurden und nicht vom Sensor einer Digitalkamera stammen.
Juna
14. April 2020 — 17:13
Ach, wenn ich mal geduldig genug wäre, das auch durchzuhalten, statt gleich zu entwickeln. Ich mag Dein Latergram sehr. Obwohl ich neulich immerhin nach gut zwei Jahren einen Film in meiner Olympus Pen fertig knippste – die Enttäuschung war allerdings groß, der Film wurde nicht richtig transportiert. Sehr wahrscheinlich mein Fehler.
Nantwein
14. April 2020 — 20:48
Hallo Juna,
sehr schade, das mit dem Film in der Pen, ich kann deine Enttäuschung nachfühlen.
Ich war früher auch so mit meinen Filmen, dass ich es gar nicht erwarten konnte, sie zu entwickeln, aber heute bereitet es mir richtig Genuss, die Entwicklung hinauszuzögern. So habe ich z.B. fünf FP4, die ich im September letzten Jahres auf einer Pressereise nach Korsika mit der Rolleiflex gemacht habe – meine privaten Aufnahmen, die digitale Autragsarbeit ist längst abgegeben und verwertet – und jedes Mal, wenn ich die säuberlich beschrifteten Rollen sehe, denke ich mir: Nein, jetzt noch nicht und krame in meinem Gedächtnis nach, was für Bilder da vielleicht drauf sein könnten. Und je länger ich warte, an desto weniger Bilder erinnere ich mich und desto größer wird die Freude sein, wenn ich die Filme eines Tages aus dem Wasser nehme und einen ersten Blick auf die Negative werfe. Es sind die latenten Bilder, die realen auf dem unentwickelten Film und die imaginierten in meinem Kopf, die für mich den Reiz eines Latergrams ausmachen … ich kann dir nur raten, es auch mal auszuprobieren.
Kurt Sadjina
18. Dezember 2020 — 20:28
Du schreibst sehr schöne, unterhaltsame und auch lehrreiche Geschichten, fährst eine wunderbare alte Maschine und fotografierst mit alten Kameras. Du hörst sicher auch Vinyl. Sehr sympathisch!
Nantwein
19. Dezember 2020 — 18:39
Du wirst lachen, ich höre hin und wieder sogar Schellack – mit einem alten Grammophon mit Federwerksaufzug und Stahlnadeln, die man nach jeder dritten Platte wechseln muss. Vollkommen mechanischer Musikgenuss – naja, „Genuss“ kann man vielleicht weglassen, angesichts des Zustands vieler meiner Platten 🙂