Man schreibt das Jahr 1912. Der Luxusliner Titanic versinkt in den eisigen Fluten des Nordatlantiks, in Ägypten wird die Büste der Nofretete ausgegraben, dund bei der Firma Eastman Kodak erblickt ein neues Filmformat das Licht der Welt: Der 127er oder „Vest Pocket“ Rollfilm.
Gedacht ist dieser erste „Kleinbildfilm“ für die neu entwickelte „Vest Pocket Kodak“, eine aus Metall gefertigte Klappkamera mit einlinsigem Objektiv, die Aufnahmen im Format 4×6,5 cm verfertigte.Auch wenn die Westentaschen damals erstaunlich groß gewesen sein müssen, wirkt die „VPK“ selbst für heutige Verhältnisse noch ausgesprochen kompakt und wird wohl auch deshalb bis 1926 über zwei Millionen mal gebaut. Die Vest Pocket Kodak – aktiv beworben als „The soldier’s camera“ – begleitet viele Soldaten in den Ersten Weltkrieg und ist so mit dafür verantwortlich, dass dieser Weltenbrand nicht nur von offiziellen Berichterstattern, sondern auch mit den Augen des einfachen Soldaten dokumentiert wird. Wie später der 35 mm Kinofilm, der dem 127er nach dem Krieg das Prädikat „Kleinbild“ abluchst, demokratisiert der kleine Rollfilm die Fotografie, indem er sie auch für weniger betuchte Bevölkerungsschichten erschwinglich macht.
In der 1929 ausbrechenden und bis weit in die 1930er-Jahre hinein tobenden Weltwirtschaftskrise steht weltweit wenig Geld für Hobbies wie die Fotografie zur Verfügung. Das beschert dem 127er noch einmal eine enorme Popularität, vor allem deshalb, weil man auf ihm bei weniger Filmmaterial gleich viele oder sogar mehr Aufnahmen unterbringt als auf seinem „großen Bruder“, dem heute noch gebräuchlichen 120er Rollfilm. Mit seinen Aufnahmeformaten 4×4 oder 4×3 cm bietet er durchaus Sparpotenzial, und das ohne allzu große Kompromisse bei der Bildqualität, wie man sie bei den damals langsam aufkommenden 35mm-Filmen wegen der stärkeren Vergrößerung noch recht grobkörniger Emulsionen zwangsläufig schließen muss.
Eine letzte Blüte erlebt das 127er Format in den 1960er Jahren als „Superdia“, das mit seinen 4×4 cm noch in einen herkömmlichen Kleinbild-Diaprojektor passt und zudem, weil quadratisch, die Fläche bereits vorhandener Projektionsleinwände optimal ausnützt. Der kurze Boom bringt eine Reihe von kompakten ein- und zweiäugigen Mittelformat-Spiegelreflexkameras hervor, darunter auch die heute noch bekannte und begehrte Baby-Rolleiflex. Als deren Produktion 1968 eingestellt wird, gerät der 127er Rollfilm mehr und mehr in Vergessenheit, bis er irgendwann einmal das Schicksal anderer, einst populärer Rollfilmformate teilt und als fotografischer Dinosaurier für immer ausstirbt. Ende einer langen Geschichte. So glaubte ich zumindest, bis letztes Jahr etwas geschah, was diesen meinen Irrglauben in seinen Grundfesten erschütterte.
Irgendwann im Spätsommer 2019 überreichte mir eine freundiche ältere Dame einen Karton mit alten Kameras, die sie nicht mehr benötigte und von denen sie glaubte, dass sie bei mir gut aufgehoben wären. Neben einer relativ modernen Konica Big Mini und einer Braun Super Paxette enthielt die kleine Schatztruhe auch eine Certo Dolly, mit der der Vater der Dame Jahrzehnte lang fotografiert hatte.
Um diesem mechanischen Meisterwerk aus Dresden – vermutliches Baujahr 1934 – neues fotografisches Leben einzuhauchen, machte ich mich im Internet auf die Suche nach abgelaufenen Filmen dafür, und siehe da: Der von mir totgeglaubte 127er-Film ist in Wahrheit quicklebendig!
Schon meine erste Suchanfrage förderte fünf nagelneu erhältliche Filme zu Tage: Den Rera Pan 100 und den Rera Pan 400, beide in Japan konfektionierte Schwarzweißfilme, die von derselben Firma kommen wie der Rera Chrome, der einzige momentan erhältliche Farbdiafilm für das Westentaschenformat. Ein Diafilm ist auch der Rollei Crossbird, der aber, wenn man ihn im C41-Prozess crossentwickelt, zu einem Farbnegativfilm mit ganz eigener Farbcharakteristik mutiert. Der letzte Film im exklusiven 127er-Club ist ein auf das kleinere Format umkonfektionierter Ilford HP5, der in seiner miniaturisierten Ausführung als HP 400 firmiert. Erhältlich sind all diese Filme bei diversen Online-Händlern, darunter auch bei macodirect.
Zugegeben, billig ist das fotografische Dinosaurierfutter aus dem Internet nicht, zwischen 11 und 13 Euro muss man für die Filme ausgeben, auf denen meine Dolly 16 Bilder im Format 4×3 cm unterbringt. Aber wenn man in den Tiefen des World Wide Web weitersucht, stößt man auf diverse Anleitungen, wie man sich seine eigenen 127er Rollfilme aus den sehr viel billigeren 120er Rollfilmen selber basteln kann – von der etwas rustikalen Methode mittels eines Zigarrenschneiders über ausgefuchste Do-it-yourself-Videotutorials (zum Beispiel hier) bis hin zu einer im 3D-Drucker gefertigten Vorrichtung, die man bei www.camerhack.it bestellen kann und die die wundersame Formatverkleinerung sogar bei Tageslicht möglich macht. Das einzige, was man zu all diesen Methoden neben handwerklichem Geschick und einer gewissen Abenteuerlust braucht, ist eine leere 127er Filmspule, die man entweder im Internet sucht oder von einem der fertig konfektionierten Filme übrig hat.
Lohnend ist der Aufwand allemal, denn mit dieser nicht allzu aufwändigen Bastelei oder einem Griff in den Geldbeutel kann man eine der interessantesten Kameragattungen wiederbeleben, die in der langen Geschichte der Fotografie gebaut wurden – das Missing Link zwischen Mittelformat- und Kleinbildfotografie.
Juna
10. Februar 2020 — 18:29
Wie schön, dass Du Dich dem 127er gewidmet hat. Ich sehne den Tag herbei, dass er wieder zu vernünftigen Preisen produziert/angeboten wird. Für meine Baby Rolleiflex bin ich eine Schneiderin. Das heißt, ich habe den Zigarrenschneider durch, eine 3D-Druck Schneiderversion für den Dunkelsack und jetzt den ganz neuen Schneider von Camerahack. Sehr durchdacht das kleine Ding. Aber, ja es gibt ein aber: für die Rolleiflex zumindest ist die Länge eines gewöhnlichen 120 Films zuviel. Sprich, man muss dennoch in den Dunkelsack, vom Papier das eine oder andere Stück abschneiden und auch vom Film, sonst wird es zu eng, der Film geht nicht rein. Das sollte man im Hinterkopf haben. Dennoch funktioniert es gut. Außerdem muss man bei der Rolleiflex noch darauf achten, dass die Aufspulspule aus Metall sein sollte, zumindest der Mittelstift. Die neueren Filme haben meist eine Plastikspule. Die sind fürs Neuspulen ausreichend, aber eben nicht, um als Aufnahmespule für die Kamera zu fungieren.
So eine kleine Mittelformat ist eben doch das beste Zwischending ding zwischen Kleinbild und größerem Mittelformat. Für mich ideal, wenn ich unterwegs bin.
Für das Abschneiden orientiere ich mich übrigens an diesem Beitrag. Das kommt sehr gut hin und nie ein Stück Klebeband für unterwegs vergessen, wenn der Film voll ist. http://127film.blogspot.com/2017/09/how-to-cut-120-film-down-to-127-size-by.html?m=1
Nantwein
10. Februar 2020 — 21:55
Hallo Juna,
vielen Dank für deinen kompetenten Kommentar zum Thema 127er-Filme selbermachen. Das 127er ist ein geniales Format, und ich bin froh, dass ich per Zufall darauf aufmerksam geworden bin.
Lustigerweise habe ich gerade heute mein Schneideset von Camerahack bekommen und es gleich mal mit einem Dummy-120er-Film (den mir ein Rollei 66-Magazin ruiniert hatte) ausprobiert. Da ich auch einen original 127er zur Verfügung hatte, der mir beim Einlegen in meine Yashica 44 aufgegangen und damit unbrauchbar geworden ist, konnte ich die beiden Filme noch im Originalpapier vergleichen und habe folgende Erkenntnisse gewonnen: Zunächst muss man bei dem zu schneidenden 120er ein 19 cm langes Stück abschneiden und erst dann die Schablone von Camerhack anlegen. Das geht bei Licht, denn der 120er hat einen viel längeren Papiervorlauf als der 127er. Danach schneidet man den Film nach Anleitung. Im zweiten Arbeitsschritt, bevor man das Ende des geschnittenen 127ers mit Klebeband am Papier befestigt, habe ich (auch bei Licht) ein 10 cm langes Stück vom Film abgeschnitten, denn nach meinen Messungen ist der 120er-Film 13 cm länger als der 127er. Ich hoffe, dass die 3 cm, die ich drangelassen habe, ausreichen, damit kein Licht von hinten in den 127er eindringt. Auch den Papiernachlauf des 120ers habe ich entsprechend gekürzt. So wird der selbst gemachte 127er dünn genug, um gut auf die Spule zu passen. Jetzt ist der erste Film fertig, und demnächst werde ich ihn in meine Yashica laden und dann entwickeln. Wird spannend, und ich werde über das Ergebnis berichten.
Danke auch für den Tipp mit den Spulen und dem Stück Klebeband, ich habe zum Glück einige alte Metallspulen, die ich immer wieder als Aufwickelspule in der Kamera verwenden kann.
Kann man eigentlich deine Fotos mit der Baby-Rollei irgendwo im Internet sehen? Würden mich sehr interessieren …
Falls du dir meine ersten Bilder mit meinen beiden 127er-Kameras ansehen möchtest, findest du sie hier: https://www.flickr.com/photos/zeitmaschinen/albums/72157713057637026
Juna
11. Februar 2020 — 8:00
Kuck an, ich dachte, dass in die Yashica ein ungekürzter Film passen würde, schließlich kann man die ja auch für 35mm gut umwandeln. sehr interessant. Ich versuche auch gleich mal die Kürzerei in Deiner Variante. Was ich bei dem Camerahackmodel kürzlich überlegte, ob man nicht auch ohne diese kleine Schiene, die man in die 120 Spule einführt, zurechtkäme. Online habe ich nur ein einziges Bild gestellt: https://flic.kr/p/2fe1GCm
Allerdings habe ich noch einige abgelaufene 127er und ärgere mich heute noch, dass ich einen mal ziemlich belanglos verknipste, weil ich dachte, dass der eh nichts mehr wird und ich eigentlich nur an die Spule wollte – und Himmel…der Film war (noch) großartig, nur die Motive wirklich nicht. Ich glaube, das war ein Agfa Isopan. Ich hab jetzt noch einen und zwei ORWOs, mal sehen, was mit denen wird. Allerdings sind das doch eher Schönwetterfilme
Nantwein
11. Februar 2020 — 19:25
Ob in die Yashica auch ein ungekürzter Film passen würde, kann ich leider nicht sagen. Aber ich werde meinen nächsten selbstgeschnittenen 4×4 hinten ungekürzt konfektionieren und es probieren. Momentan habe ich noch einen Rera Pan 100 drin, und angesichts seines Preises möchte ich ihn nicht leichtfertig verknipsen. Vorne werde ich meine Kürzung auf jeden Fall vornehmen, damit der zugeschnittene 120 die selbe Vorlauflänge hat wie der 127er.
Ich nämlich muss nämlich bei der Yashica noch ein Problem lösen: Im Gegensatz zur Baby Rolleiflex erkennt sie nicht automatisch das erste Bild des Films. Man muss vielmehr den Film so lange transportieren, bis in einem kleinen Fenster auf der Rückseite die Nummer 1 erscheint. Erst danach resettet man das Zählwerk, und von da an geht alles automatisch. Leider funktioniert diese Methode mit den selbst geschnittenen Filmen nicht, weil bei denen die Zahlen auf dem Lichtschutzpapier an einer anderen Stelle stehen und in dem Fenster nicht sichtbar sind.
Deshalb werde ich erst einmal meinen Dummy 127er einlegen und mir merken, wie oft ich den Knauf drehen muss, bis die 1 im Fenster steht. Diese Anzahl an Umdrehungen werde ich dann beim zugeschnittenen 120er auch machen – ich hoffe, das funktioniert.
Dein Bild hab ich mir übrigens angeschaut und festgestellt, dass ich es schon vorher auf flickr mit einem Sternchen versehen hatte 🙂
Juna
12. Februar 2020 — 12:44
Stimmt, das war das mit der Yashica, die erkennt es nicht automatisch. Andererseits aber hättest Du den Vorteil, dass Du eventuell sogar 15 Bilder auf einen selbstgeschnittenen Film bringen könntest, was ja auch finanziell nicht sooo schlecht wäre. Das geht bei der Rolleiflex nicht. Du hattest mich jetzt so inspiriert, dass ich gleich diverse Filme geschnitten habe und dann mal wieder das Baby ausführen werde (und jetzt auch schon wieder nach anderen Modellen schaue. G-A-S schlägt zu. Ich bin sehr gespannt, was die Yashica liefern wird.
Nantwein
12. Februar 2020 — 22:54
Das mit den 15 Bildern ist keine schlechte Idee, mal sehen, ob ich das Bildzählwerk, das bei 12 Aufnahmen stoppt, überlisten kann.
Freut mich, dass ich dich dazu inspiriert habe, die Baby auszuführen und zu fotografieren. Wenn ich es morgen schaffe, schieße ich die letzen Bilder des Rera Pan 100, der noch in der Yashica ist, und probiere dann meinen ersten selbst geschnittenen 120er. Spannend …
Miriam
23. Januar 2021 — 11:16
Wollte fragen, wo genau ihr Eure Filme denn entwickeln lässt, oder ob ihr das zuhause macht?
Nantwein
23. Januar 2021 — 11:26
Hallo Miriam,
Schwarzweißfilme entwickle ich zuhause, das ist nicht schwer und geht mit den richtigen Entwicklungsdosen sogar ohne Dunkelkammer oder Wechselsack. Farbfilme bringe ich in ein Fotolabor hier in München, eines der letzten verbliebenen. Es heißt flash-foto, ist in der Hohenzollernstraße 90 nahe Kurfürstenplatz in Schwabing-West (falls jemand das liest, der in München wohnt und ein gutes Labor sucht) und leistet hervorragende Arbeit. Ich lasse dort Kleinbild- und Rollfilme entwickeln und war immer sehr zufrieden.
Sebastian
9. Januar 2022 — 14:05
Interessante Aufarbeitung, vielleicht ziehe mir ja doch mal eine 4×4 an Land …
P.S. So schließen sich Kreise – mein Urgroßvater hat die Nofretete (mit) ausgegraben.
Christian
24. Juni 2022 — 14:38
Hallo,
bin noch sehr neu in der Analogfotografie. Habe eine Rolleiflex Baby. Kann man den 127er Film wieder auf eine 120er Spule rollen (wenn der Film voll ist) und diese dann zum entwickeln geben? Klappt das trotz „Lücke“?
Danke!
Nantwein
24. Juni 2022 — 14:52
Hallo Christian,
bloß nicht! Wenn du den 127er Fim auf eine 120er Spule wickelst, kann am oberen und unteren Rand des Negativs, wo normalerweise die runde Plastikscheibe der Spule ist, Licht eindringen. Du müsstest aber einen 127er-Film in jedes Labor geben können, die sind auf die Entwicklung dieses Formats ausgerichtet. Bei mir jedenfalls hat es in dem kleinen Labor in München, wo ich meine Farbfilme entwickeln ließ bis es vor einem Jahr zumachen musste, immer völlig problemlos geklappt.
Inzwischen entwickle ich meine Farbfilme selbst (wie meine Schwarzweißfilme schon immer), das ist gar nicht so schwer mit den Farbkits von Tetenal oder Rollei. Aufspulen tu ich die Filme auf eine normale Spirale, die sich auf Kleinbild, 6×6 und auch 127er Format verstellen lässt.
Schöne Grüße und viel Spaß mit der Baby-Rolleiflex!
Thomas
Christian
24. Juni 2022 — 15:29
Danke für die schnelle Antwort. Das heißt, das ich bei jedem neuen Film (120 zu 127 geschnitten) eine neue 127er Spule brauche, da die alte mit ins Labor geht. Gibt es die irgendwo im Inet (zu erschwinglichen Preisen) zu kaufen?
Alternative wäre echt die Selbstentwicklung…
Nantwein
24. Juni 2022 — 18:16
Ja, Selbstentwickeln wäre eine Alternative, aber vielleicht kannst du ja das Labor bitten, dir die leeren Spulen zurückzugeben. Allzu oft kann man die Plastikspulen der modernen 127er-Filme meiner Erfahrung nach allerdings nicht verwenden, denn die kleinen Zacken oben brechen schnell ab. Aus diesem Grund waren die alten 127er Spulen auch aus Metall. Wenn du dir solche besorgen kannst (findet man hin und wieder auf Ebay)und ein zuverlässiges Zurückschicken vom Labor organisierst, kommst du mit zwei Spulen gut über die Runden. Eine Quelle im Internet für die Plastikspulen kenne ich leider nicht.
Übrigens: Kennst du die Website 127film.blogspot.com? Da gibts interessante infos und „127 days“, zu denen du deine Fotos einschicken kannst …