Wenn man es genau nimmt, werden alle fotografischen Filme, sobald man sie belichtet hat, zu kleinen Zeitkapseln. Wie die Edelstahlplomben, die man in die Fundamente von Gebäuden einmauert oder auf die Reise in entfernte Galaxien schickt, sind sie voller Informationen, die erst nach Ablauf einer unbestimmten Zeitspannen abgerufen werden – oder überhaupt nicht mehr. Selbst wenn man einen Film relativ zügig belichtet und zeitnah entwickeln lässt, macht allein die Tatsache, dass die Aufnahmen eine Zeit lang unsichtbar in der belichteten Emulsion geschlummert haben, die Fotos auf einem Film zu etwas gänzlich anderem als die Sekundenbruchteile nach der Aufnahme verfügbaren Bilder unserer Digitalkameras und Smartphones.
In der Zeit, in der die auf dem Film eingefangenen, latent in der Schicht vorhandenen Bilder nur in unserem Kopf existieren, tut sich etwas mit ihnen. Sie verändern sich in unserer Erinnerung mitunter so stark, dass sie uns, wenn nach ihrer Entwicklung zu sehen bekommen, von Grund auf überraschen. Ich habe dieses Phänomen in meinem Blogbeitrag „Analoge Fotografie oder die Kunst, auf ein Foto zu warten“ beschrieben und halte es nach wie vor für einen der faszinierendsten Aspekte der analogen Fotografie. Deshalb arbeite ich seit einiger Zeit an einem Projekt, bei dem ich belichtete Filme absichtlich für eine längere Zeit in eine Schublade lege. Ich will sehen, wie sich die Bilder auf ihnen bis zu ihrer Entwicklung in meinem Kopf verändern. An we lche ich mich noch erinnere und welche ich vergessen habe. Es sind Bruchteile von Sekunden, die ich über Jahre aufheben und reifen lassen will. Ende 2019 – so mein Plan – werde ich die ersten dieser auf Eis gelegten Filme entwickeln.
Was aber passiert mit Bildern, die unbeabsichtigt viele Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte lang in vergessenen Kameras vor sich hin schlummern? Bilder, die man nicht einmal selbst gemacht hat, die man quasi als Mageninhalt einer geschenkten oder bei Ebay erstandenen Kamera mitbekommen hat? Immer wenn ich eine solche Kamera zum ersten Mal in die Hand nehme, prüfe ich nach, ob sich in ihrem Inneren nicht ein fotografisches Dornröschen befindet, das in seinem lichtdichten Sarg darauf wartet, nach einer halben Ewigkeit von entwickelnden Chemikalien wachgeküsst zu werden.
Wenn ich dann beim Drehen am Rückspulknopf einen sanften Widerstand spüre, beginnt mein Herz schneller zu schlagen. Was mag mich wohl erwarten, wenn ich die Filme dieser Kameras (es sind fast immer Farbnegativfilme) aus dem Entwicklungslabor meines Vertrauens hole? Fast immer sieht der Film, den mir die freundliche Frau an der Theke als ganze Rolle übergibt, weil sie ihn in Ermangelung klar erkennbarer Bilder nicht in die üblichen 6er-Streifen schneiden kann, auf den ersten Blick so aus, als wäre er nicht belichtet worden.
Erst wenn ich den Streifen in den Diakopiervorsatz an meiner Sony A7 lege und ihn langsam durchziehe, tauchen aus dem bräunlich-blassen Nebel der gealterten Emulsion die Schatten undeutlicher Bilder auf. Ich fotografiere sie ab und wandle sie in Lightroom mit dem Plug-in „Negative Lab“ in Positive um. Dann lade ich sie in eines meiner magischen Bildbearbeitungsprogramme, meistens in Aurora HDR oder Luminar, und versuche, mit allen dort zur Verfügung stehenden Mitteln das Bisschen an bildlichen Informationen aus ihnen herauszukitzeln, das ihnen noch verblieben ist.
Das Ergebnis sind meist grobkörnige, in den Farben stark veränderte Bilder, die meisten von ihnen belanglose Schnappschüsse, die aber bisher noch nie das Licht der Welt erblickt haben. Herausgefischt aus den still vor sich hin gärenden Lagunen der Zeit, sind sie für mich ganz spezielle Dokumente, die ohne Rettungsaktionen wie die meine für immer dem Vergessen anheim gefallen wären.
Hier können Sie einen Blick auf die vergessenen Filme werfen:
Vergessener Film aus einer Braun Colorette
Vergessener Film aus einer Kodak Retina IIIc
Vergessener Film aus einer Kodak Retina IIIS
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