Normalerweise lasse ich die Filme für meine Latergramme abgelagern – ein Jahr unentwickelte Wartezeit in meinem Schrank ist keine Seltenheit. Bei diesem Film allerdings, einem Fomapan 200, den ich mit einer bei Ebay gekauften Voigtländer Vitessa Anfang Mai belichtet habe, sind es nur drei Wochen geworden, und das aus zwei Gründen.
Erstens war ich gespannt, wie sich die Vitessa bewährt, die abgespeckte Version der berühmten Amateurkamera aus den 1950er Jahren, deren Top-Modelle mit dem berühmten Ultron-Objektiv ausgerüstet waren, einem Sechslinser mit der Lichtstärke 2.0, der seinerzeit als eines der besten Objektive überhaupt galt. Meine Vitessa hingegen hat nur ein 2.8er Objektiv zu bieten, das vierlinsige Color-Skopar, eine klassische Konstruktion für die weniger betuchten Amateure, die so gut wie jeder Kamerahersteller damals im Programm hatte – sei es als Tessar, Elmar, Xenar oder Cassar, um nur die bekanntesten von diesen enorm populären Objektiven zu nennen.
Der zweite Grund weshalb ich diesen Film so rasch in meine Agfa Rondinax Tageslichtentwicklungsdose einspulte ist Corona, das kleine Virus, das unser aller Leben in den letzten Monaten so maßgeblich verändert hat. Soziale Kontakte, Lokalbesuche und Reisen – all das war mitten im „Lockdown“ (diesem euphemistischen Anglizismus für Ausgangssperre) wochenlang verboten, und als die ersten Lockerungen kamen, brauchte man einen guten Grund, um in eine andere Stadt zu reisen. Von München nach Berlin, zum Beispiel. Ich hatte so einen Grund, Dreharbeiten für eine Sendung im Bayerischen Fernsehen, und fuhr in einem fast leeren Zug in die Bundeshauptstadt, die in jenen Tagen Anfang Mai noch eine Geisterstadt war. Maskierte Gestalten in U-Bahnen und Bussen, geschlossene Restaurants und Museen, ein Hotel, das erst seit ein paar Tagen wieder aufgemacht hatte und einem das Frühstück als Lunchpaket aushändigte, das man dann auf seinem Zimmer zu verzehren hatte, ebenso wie die Pizza oder das Asia-Essen, das man sich am Abend beim Straßenverkauf eines Lokals holte und halb erkaltet mit einem Zahnputzglas voller im Supermarkt gekauftem Rotwein hinunterspülte.
Eine Ausnahmezeit, die inzwischen schon wieder zu Ende geht. Hier in München sind seit einer Woche die Biergärten wieder auf, jetzt folgen die Restaurants. Museen öffnen wieder, und die ersten Pläne für eine Wiederaufnahme des Theater- und Konzertbetriebs werden verkündet.
Die Sendung, für die ich in Berlin gedreht und geschrieben habe, ist längst gelaufen, und die paar seltsamen Tage in dieser vom Virus leergefegten und heruntergefahrenen Stadt versinken so rasch in meiner Erinnerung, dass ich sie mir durch die Entwicklung dieses einen Schwarzweißfilms noch einmal zurückholen wollte, bevor mein Leben vollständig in seine „normalen“ Bahnen zurückgeleitet wird. Solche Bilder – das ist mir klar – werde ich so schnell nicht wieder machen.
Kurt Sadjina
18. Dezember 2020 — 19:23
Bin heute auf flickr auf dich und deine Seite hier aufmerksam geworden. Danke für diese kleine Geschichte und den Beitrag über deine Latergramme. Ich werde es auch ausprobieren. Beste Grüße Kurt.
Thomas
18. Dezember 2020 — 23:44
Hallo Kurt,
das mit dem Latergram kann ich nur empfehlen – es ist faszinierend, was die Zeit aus den Bildern in unseren Köpfen macht, während die Negative noch in der Emulsion des Films schlummern …
Michael Khan
9. Oktober 2022 — 16:57
Geschossene Filme lange liegen lassen – das würde meine Neugier nicht zulassen. Ich mache immer Experimente- die Kamera mit jenem neuen Objektiv oder diesem neuen Film oder alles zusammen …. da muss ich auch schon recht bald die Ergebnisse sehen.
Nantwein
9. Oktober 2022 — 17:53
Hallo Michael,
also wenn ich eine neue Kamera oder ein neues Objektiv habe und den ersten Film damit belichte, wandert der auch recht schnell in die Entwicklungsdose, da ist meine Neugier dann doch größer als die Freude am Latergram 🙂