Wie viele andere, die in digitalen Zeiten noch immer der analogen Fotografie frönen, mache ich mir von Zeit zu Zeit Gedanken über die grundlegenden Unterschiede zwischen diesen beiden Arten, optische Eindrücke festzuhalten. Während mein Herz inzwischen wieder voll und ganz der analogen Fotografie mit alten Kameras gehört, erledige ich meine professionellen fotografischen Aufträge natürlich fast ausschließlich digital, auch wenn ich dabei immer wieder „alte“, analoge Objektive an die hochmodernen digitalen Kameragehäuse adaptiere. Die andere und bei den meisten Menschen inzwischen gebräuchlichste Variante der digitalen Fotografie – die mit dem allgegenwärtigen Smartphone- wird bei mir immer mehr zum Auslaufmodell. Eigentlich verwende ich sie fast ausschließlich dafür, mir durch die Metadaten eines Telefon-Schnappschusses das Aufschreiben des genauen Aufnahmeorts einer analogen Aufnahme zu ersparen.
Auf den ersten Blick möchte man ja meinen, analoge und digitale Fotografie seien sich ziemlich ähnlich. Bei beiden fällt Licht durch ein Objektiv oder ein anderes System zur Beugung von Lichtstrahlen (Stichwort Lochkamera) auf eine Fläche und erzeugt dort ein Bild, das auf die eine oder andere Methode festgehalten wird. Die digitale Fotografie macht das durch die Aneinanderreihung von Ja-Nein-Informationen, die ein mit Millionen lichtempfindlicher Fotodioden bestückter Sensor an einen Computer (alias Kamera oder Smartphone) zur Verarbeitung weiterleitet. Gibt man sich mit dem zufrieden, was die Algorithmen dieses Computers als optimales Bild betrachten, dann ist das digitale Foto schon ein paar Millisekunden nach seiner Aufnahme bereit zur weiteren Nutzung.
Bei der analogen Fotografie ist dieser Prozess naturgemäß anders und sehr viel aufwändiger. Hier treffen die optischen Informationen des Objektivs auf eine dünne Schicht von Silberhalogenidkristallen, aufgebracht auf das Trägermaterial des Films. Diese Kristalle werden der Energie eines Lichtstrahls nur ein klein wenig angepickt und bleiben als latentes Bild so lange unsichtbar auf dem Film bis sie später, beim Kontakt mit dem Entwickler, vollständig sichtbar gemacht werden. Und dieses kleine Wörtchen “später” ist für mich einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen den analogen und der digitalen Fotografie. (Siehe mein Projekt „Latergram“)
Was die digitale und die analoge Fotografie grundlegend unterscheidet ist nicht der Umstand, dass ein analoges Negativ erst beim Vergrößern in der Dunkelkammer zum endgültigen Bild wird – eine digitale RAW-Datei ist ebenfalls noch kein “Bild”, wenn sie aus der Kamera kommt und muss erst in einer Software wie Luminar oder Lightroom “entwickelt” werden.
Auch die oft lamentierte Tatsache, dass digitale Bilder nur kurz nach der Aufnahme auf dem Monitor flüchtig angeschaut und danach für immer im Speicher des Telefons oder auf irgendwelchen Festplatten verschwinden, ist keine exklusive Eigenschaft der Dititalfotografie: Ich habe auch in analogen Zeiten ganze Diafilme nur einmal kurz ans Licht gehalten und dann, nachdem ich ein oder zwei Bilder davon für meinen Auftrag verwertet habe, dem Vergessen in meinem Archiv anheim gegeben. Und dieses Vergessen war ein sehr viel profunderes als die Amnesie, unter der wir von einem nie aufhörenden Bildertsunami überrollten Digitalfotografen leiden, denn damals gab es noch keine ohne viel Aufwand gut verschlagwortbaren und mit Hilfe von künstlicher Intelligenz in Sekundenschnelle durchsuchbaren Archive wie sie die digitale Ära in Form von Lightroom kennt.
Nein, wenn ich an die wesentlichen Unterschiede zwischen digitaler und analoger Fotografie denke, fällt mir neben der Tatsache, dass analoge Fotos als Dias, Negative oder Abzüge ausschließlich in der realen und stofflichen Welt existieren und digitale Aufnahmen meist nur flüchtiger Magnetismus sind, immer wieder diese oben genannte und in einem weiten Spektrum variable Zeitspanne zwischen Belichtung und Entwicklung ein. Diese macht für mich einen Großteil meiner Faszination für die analoge Fotografie aus.
Ein belichteter und noch nicht entwickelter Film kommt mir immer wie eine Art Konservendose vor (ganz gleich, ob es sich um eine Kleinbildpatrone aus Metall oder einen von seinem Schutzpapier umschlossenen Rollfilm handelt), eine Konservendose voller Zeit. Wie die Sardinen im Öl sind da in in einer dünnen Schicht aus Silberhalogenid winzige Stückchen Vergangenheit konserviert, Bruchteile von Sekunden, die irgendwann einmal beim Zucken eines Verschlusses als chemische Veränderung festgehalten wurden.
Wann ich diese Konservendose öffne, sprich: den Film entwickle, liegt ganz in meiner Hand. Ich kann sie sofort nach ihrer Produktion aufreißen, weil ich schnell an die in ihr konservierten Fotos kommen muss, ich kann sie aber auch jahrelang im Regal stehen lassen und erst dann öffnen, wenn ihr Inhalt längst sein Verfallsdatum überschritten hat.
Das gilt übrigens in materieller ebenso wie in ideeller Hinsicht. Fotos die über lange Zeit latent in einer Emulsion schlummern, verändern sich nicht nur chemisch wie bei den vergessenen Filmen, die ich manchmal in alten Kameras finde. Auch die Motive, die sich auf noch nicht entwickelten Filmen befinden, Augenblicke also, die ich irgendwann einmal erlebt habe, verblassen oder verändern sich in meinem Bewusstsein, je länger ein Film unentwickelt bei mir im Schrank steht. Und wenn dann der Entwickler dann Monate oderJahre später wie ein chemischer Dosenöffner die fotografische Konserve öffnet, werden oft längst vergessene Erinnerungen an ganz alltägliche Augenblicke wieder wach, Sekundenbruchteile aus dem langen und breiten Zeitstrom meines Lebens, die mein Gedächtnis in ihrer immensen Fülle einfach nicht hat abspeichern können.
Und hier komme ich wieder auf die Fotografie mit dem Smartphone zurück: So flüchtig ein lediglich elektronisches Foto auf lange Sicht auch sein mag, der Augenblick, den es festgehalten hat, schiebt sich, so lange es sich noch als Datei auf dem Telefon befindet, immer wieder in mein Bewusstsein – sei es bei der Suche nach anderen Fotos, sei es in einer der von meinem iphone selbstständig erstellten, mit Zoomeffekten und Hintergrundmusik aufgehübschten Kompilationen, die es mir mit Titeln wie „München vor einem Jahr“ ungefragt auf meinen Startbildschirm schiebt.
Man kann so etwas mögen, aber ich fühle mich davon eher belästigt und halte es lieber mit meinen fotografischen Konservendosen, die beschriftet mit Aufnahmedatum und der Kamera, die sie erzeugt hat an ihrem speziellen Platz in meinem Fotoschrank stehen. Jedes Mal, wenn ich sie anschaue, entlocken sie mir ein kleines Lächeln wie eine Dose in Chili-Öl eingelegte Sardinen, die ich vor Jahren im Urlaub in der Bretagne gekauft habe und irgendwann einmal, wenn ich in der Stimmung dazu bin, ganz langsam und andächtig öffnen und genießen werde.
Michael
7. Dezember 2020 — 23:07
Ein sehr schöner und tiefgründiger Artikel.